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Ist Gersfeld wirklich so groß wie Paris?

Von einer Stadtführung, in der ein in Frankreich lebender Gymnasiallehrer über seine alte Heimat staunt

Erstellt: Montag, 31.10.2022
Ist Gersfeld wirklich so groß wie Paris?

Bei einer Stadtführung auf den Spuren seiner Kindheit: Siegbert Mallach mit seiner Tochter Dr. Sarah Cunze. Fotos: Mirko Luis

GERSFELD. Unsere Kindheit, da sind sich Psychologen selten einig, prägt unser ganzes Leben. ,,An die Jugend erinnert man sich am liebsten", sagt Siegbert Mallach, der in Gersfeld seine Kindheit und ein Teil seiner Jugend verbrachte und heute in Frankreich an der Grenze zum Saarland lebt.

Von Mirko Luis

Der 85-jährige ehemalige Gymnasiallehrer kommt immer wieder gern in seine alte Heimat zurück. Der Senior staunt - wie nicht wenige Touristen - über die Sanierungsfortschritte baugeschichtlich-bedeutsamer "Juwelen", allen voran über die drei Schlösser, die sich im Besitz der Familie von Waldthausen befinden.

Auffrischung der Erinnerungen

Mallachs Tochter, Dr. Sarah Cunze, eine promovierte Biologin, arbeitet an der Goethe-Uni Frankfurt - somit ist für den heimatgeschichtlich-interessierten Witwer die Verbindung zu Hessen auch im Alter von besonderer Bedeutung. Seinem Abitur am Gymnasium in Fulda folgte seinerzeit ein Studium an der Philipps-Universität Marburg, später unterrichtete er Sport und Englisch im Saarland, wo er, wie er sagt, die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Auch wenn dem ehemals sportlich sehr aktiven Senior das Laufen inzwischen etwas schwerer fällt, ist Mallach dank Gehhilfe noch weitgehend selbstständig mobil. Die alten Zeiten aufleben lassen und die Erinnerungen an die Kindheit bei Besuchern der alten Heimat aufzufrischen, das sei nicht jedem vergönnt, zeigt sich der ehemalige Gersfelder dankbar.

Im Generalshaus regierten tatsächlich einmal zehn Landräte.
Im Generalshaus regierten tatsächlich einmal zehn Landräte.

Dass Gersfeld seit 2015 heilklimatischer Kurort ist, mittlerweile 20 praktizierende Ärzte, ein kleines Krankenhaus und eine ganze Reihe moderner Reha-Klinikplätze hat, erfährt Mallach bei einer rund 90-minütigen Stadtführung. Stadtführerin ist keine Geringere als die langjährige Bürgermeisterin Margit Trittin (70), die einen wesentlichen Anteil an der Etablierung Rhönstadt als Gesundheitsstandort hat. „Als ich hier wohnte, gab es gerade mal Zahnarzt und einen Allgemeinmediziner", staunt Siegbert Mallach über die kleine Revolution auf dem Gesundheitssektor in seiner alten Heimat. 

Die Stadtführung beginnt an der Tourist-Information. Sie setzt sich fort in Erzählungen über bedeutende Herrscher aus etlichen Jahrhunderten Gersfelder Geschichte und die Streitlust des Rhöner Adelsgeschlechts der Ebersberger. Trittin weist auf bedeutende Bauten wie das Generalshaus am Marktplatz hin, in dem einst zehn bayerische Landräte regierten, nachdem der vormals eigenständige Landkreis Gersfeld (von 1815 bis 1866 bayerisch) preußisch geworden war. Die Teilnehmer am Stadtrundgang ein Dutzend geschichtsinteressierter Urlauberunternehmen am Montag dieser Woche eine komprimierte Zeitreise. Deren Bandbreite reicht von der ersten urkundlichen Erwähnung (944) und Verleihung der Stadtrechte (1359) über zwei furchtbare Pest-Jahre (ab 1635), in denen 1135 Menschen im Gersfelder Kirchspiel den Tod fanden, bis hin in die jüngere Gegenwart. Und die sei im Kern eine Erfolgsstory, lenkte Trittin bei ihrer kleinen Vorstellung den Blick auf das Biosphärenreservat Rhön, in dem Gersfeld Ausgangspunkt für Wanderungen und ein Zentrum des Wintersports sei.

Stadtführung mit sprachlichem Esprit und Insiderwissen: Margit Trittin in ihrem Element.
Stadtführung mit sprachlichem Esprit und Insiderwissen: Margit Trittin in ihrem Element.

Trittin, die Touristen die Besonderheiten ihrer Heimatstadt mit sprachlichem Esprit und fundierten Kenntnissen der Regionalgeschichte vermittelt, gibt nebenbei auch praktische Tipps. ,,Ziehen Sie sich bei Ausflügen auf die Wasserkuppe dicke Jacken an, denn da oben weht ein anderes Lüftchen und es ist 5 Grad Celsius kälter", rät sie den Touristen. Und hält auf sehr unterhaltsame Weise den Spannungsbogen hoch. Einer ihrer Vorgänger habe immer gesagt: ,,Gersfeld ist so groß wie Paris". Sie habe daran gezweifelt und nachgerechnet. Ergebnis: ,,Klar, wir sind mit unseren 13 Stadtteilen und 90 Quadratkilometern kleiner, aber nur 17 Prozent", so die erste zur Chefin einer Verwaltung gewählten Frau im Landkreis Fulda. Auf die 18 Jahre, in der sie die Geschicke der Stadt, wie sie heute sagt, „mit beeinflussen durfte", schaue sie dankbar zurück. ,,Letztlich ist es die Politik, die Entscheidungen trifft, aber als Bürgermeisterin hat man Gestaltungsmöglichkeiten."

Imposante Barockkirche

Sich als SPD-Politikerin in einer von der CDU dominierten Region durchgesetzt zu haben, das sei schon etwas Besonderes. Dieses Attribut trifft übrigens auf die Stadt Gersfeld, in der etwa zwei Drittel der Bevölkerung evangelisch-lutherischen Glaubens ist, generell zu. Sind evangelische Kirchen meist eher kahl und bescheiden eingerichtet, zeigt die Barockkirche in Gersfeld, dass es auch anders, eine Nummer größer geht. Besonders imposant: der aus Rhöner Sandstein hergestellte Altar, die Kanzel mit ihrem fünfeckigen Kanzelkorb mittig dar über und die Orgel mit ihrem prachtvollen Rokoko-Gehäuse. Die gebürtige Hessin Dolly Schmall, die aus der Nähe von Trier angereist ist, besucht Gersfeld bereits zum zweiten Mal. ,,Es gefällt mir sehr gut - und es gibt immer Neues zu entdecken." Stadtführerin Margit Trittin hört so etwas natürlich gern. Klar, dass sie es als 1. Vorsitzende vom Rhönklub Zweigverein Gersfeld nicht versäumt, am ,,Gasthaus zum Hirsch", der Gründungsstätte des Rhönclubs, Halt zu machen und Spannendes aus dem vielfältigen Vereinsleben zu erzählen.

Dass dort, wo sich heute die Rhön-Klinik Küppelsmühle befindet, einst eine Orangeriekultur betrieben wurde, darüber dürften vor allem jüngere Generationen ebenso wenig Kenntnis haben wie über die Bedeutung der Elefantenstatue im Schlosspark. Eine Geschichte dazu wäre mit Sicherheit einen weiteren Artikel wert -wem allerdings die Neugier nicht schlafen lässt, der sollte einfach mal zum Telefonhörer greifen und sich bei der Tourist-Info Gersfeld unter der Telefonnummer (06654) 1780 oder per Mail unter tourist-info@gersfeld.de für eine der nächsten Stadtführungen anmelden. Gersfeld hat ein engagiertes Stadtführer-Quintett, dem neben Margit Trittin deren Tochter Rieke Trittin, Rainer Hein, Manfred Weinig und Jan Gutermuth angehören.

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